Wer in den letzten Tagen aufmerksam die Nachrichten verfolgt hat, hat dabei vielleicht eh das eine oder andere Mal an uns denken müssen, wenn es um Lampedusa ging. Die sizilianische Insel auf der die meisten Boote, die den gefährlichen Trip übers Mittelmeer wagen, ankommen ist zu einem Symbol der europäischen Abschottungspolitik geworden und aktuell wieder in den Nachrichten: Mit zeitweise über 6500 People on the Move auf der 20 Quadratkilometer großen Insel ist ein neuer Höchststand an Neuankömmlingen erreicht – und diese mit 450 Auffangplätzen denkbar schlecht darauf vorbereitet. Was konservative Medien zur Schnappatmung und die liberalen in Mitleidsspiralen treibt, provoziert bei den einen wie den anderen Vergleiche mit dem sogenannten „Sommer der Migration“ 2015. Der Unterschied heute ist nur, dass die Festung Europa im Vergleich zu damals eine Vielzahl weiterer Burggräben und Mauern gegraben hat. Nicht genügend, wenn man den Stimmen der europäischen Politik glauben will, um einem herbei phantasierten „neuen Ansturm“ standzuhalten: Frankreich verkündet eine Ausweitung der Grenzkontrollen, Deutschland einen kurzzeitigen Ausstieg aus der Solidaritätsaufnahme in Italien gestrandeter People on the Move. Die Italien regierende Faschistin Giorgia Meloni fordert zeitgleich offen, die europäischen Marinen gegen die übers Meer kommende Zivilbevölkerung einzusetzen.
Von dem beschworenen „Ansturm“ ist hier in Ventimiglia bisher noch wenig zu spüren, auch wenn es gut vorstellbar ist, dass hier in den nächsten Tagen bis Wochen sehr viel mehr People on the Move sein werden. In den letzten Tagen war der Platz rund um die Brücke, an der Via Tenda, unter der viele Menschen schlafen sehr voll. Und an einem Tagen hörten wir bereits gegen Mittag, dass 155 Leute von der französischen Seite der Grenze gepushbackt worden wären, eine Zahl, die die 60-70 Leute, die sonst durchschnittlich jeden Tag von der Grenze zurückgepusht werden, weit übersteigt. Aber im Verlauf der Woche war die Situation deutlich geleerter und die Dinge nahmen ihren normalen Verlauf – eine Normalität die aber selbst schon ein hohes Level vorgibt. So kommen die meisten Tage über den Tag verteilt sicher 100 Menschen zu uns an den Bus. Strukturen die an der allabendlichen Essensausgabe beteiligt sind, erzählten uns, mit 200 bis 400 Mahlzeiten pro Abend an die Grenzen des ihnen machbaren zu gelangen.
Was sehr deutlich zu spüren ist, ist der naive bis brutale Umgang der europäischen Politik mit dem selbst erzeugten Schreckgespenst ungeregelter Migrationsbewegungen. So haben wir Mittwoch ( 13.9.23) Nachmittag Flavio di Muro, der Bürgermeister von Ventimiglia und Mitglied der faschistischen Lega Nord, kennen gelernt. Der Anzug tragende Schnösel, der bis letztes Jahr Parlamentsmitglied der Regierung um Faschist Salvini war, stand inmitten einer Traube besorgter Bürger*innen vor einer auf der Via Tenda gelegenen Kirche und sprach, ganz Volksnähe, zu den Ängsten der vor ihm Versammelten. Neben ekelhaften und realitätsfremden Klassensystem „guter“ und „schlechter“ Migrant*innen sowie einigen höchst amüsanten Kommentaren – er sei ja mehr no border als die Linken – verkündete er dabei vor allem eine Verschärfung der Kontrolle und Beschränkung der People on the Move, die durch den Ort passieren wollen. So kündigte er für den nächsten Tag eine Behörden übergreifende Razzia am Platz zusammen mit einer Räumung der Schlafplätze unter der Brücke an, darüber hinaus aber, dass er kommenden Montag einen Termin in Rom habe um zwei Sachen zu beantragen: Einmal ein nahe des Bahnhofs der Stadt gelegenes Auffanglager für „berechtigte“ Migrant*innen, dann ein in der Region gelegenes Haft- und Abschiebelager. Beides, natürlich, um den damit weg gesperrten und verwalteten People on the Move einen Gefallen zu tun, zeitgleich aber auch die Bürger*innen der Stadt zu beruhigen, so di Muro.
Die von ihm angekündigte Räumung, das können wir zwei Tage später sagen, ist bisher die übliche heiße Luft geblieben, mit der die Populist*innen ihre Politik machen. Was die Finanzierung und Errichtung der Lager angeht werden wir wohl in der nächsten Woche mehr wissen. Fest steht aber, dass di Muro’s Idee vollkommen mit dem Rest der europäischen Migrationspolitik im Einklang geht: Sich beharrlich der Einsicht zu verweigern, dass es Menschen sind, die auf Lampedusa ankommen, sondern diese wie ein logistisches und administratives Problem zu behandeln, mit bürokratisch-kaltem Rassismus statt irgendwelchen Formen von Solidarität oder Menschlichkeit zu begegnen. Nicht, dass es uns überraschen würde. Und so härtet, während wir weiter jeden Tag auf den Platz um die Via Tenda fahren, die Festung Europa um uns herum ein weiteres Stückchen aus.