Directsupport.
Seid Dezember 2019 ist dieses Projekt für mich ein Bestandteil in meinem Alltag, mal intensiver und mal etwas entfernter.
Im Sommer 2015 war ich in verschiedenen Zusammenhängen und mit verschiedenen Personen, die ich gut oder eher weniger gut kannte an verschiedenen Grenzorten auf der Balkanroute unterwegs, um dort Menschen zu unterstützen die sich auf dem Weg nach Europa oder in weitere westlich gelegene Länder befanden.Ich war auch unterwegs, um zumindestens in Bruchteilen zu verstehen, was medial äußerst diskriminierend als „Flüchtlingskrise“ und später als Sommer der Migration benannt wurde. Im Fernsehen und in den Zeitungen waren Bilder zu sehen, wie unzählige Menschen eingekesselt von Polizei und Militär am Bahnhof von Keletti in Ungarn, campieren mussten. Rasant kam es dazu, dass immer mehr europäische Grenzen schlossen und monatelang Grenzkontrollen wieder auf der Tagesordnung standen, das Schengenabkommen war außer Kraft gesetzt.
Aber was hat das mit Ventimiglia im Jahr 2021 zu tun?
Für mich hat es unter anderem damit zu tun, dass diese Umstände, die ich an verschiedenen Orten für kurze Zeit miterlebt habe, mein politisches Bewusstsein und meine Abneigung gegenüber Staaten und deren Grenzen stark geprägt haben.Viele der Situationen in Rözske, Sid, Belgrad oder Rigonze habe ich noch deutlich vor Augen und werde sie sicher so schnell nicht vergessen.
Szenen in denen hunderte Menschen, meist dürftig gekleidet, orientierungslos, hungrig und verängstigt von Polizei und Militär gekesselt oder von einem Punkt zum nächsten eskortiert wurden. Der Geruch von verbrannter Plastik, nassen Decken gemischt mit Fäkalgestankt…
Als ich zu der Gruppe des Projektes Directsupport hinzu kam, war der Plan auf die Balkanroute, vielleicht nach Bosnien zu fahren, um erneut Menschen, die dort an Grenzen festhängen, soviel Solidarität wie möglich entgegen zu bringen.
Wir haben gemeinsame Vorbereitungen getroffen, bis wir dann im März 2020 merkten, dass eine Fahrt zum Balkan gar nicht möglich ist, da aufgrund der Covid 19 Pandemie fast alle Grenzen, die wie hätten passieren müssen, geschlossen waren.
Somit hat sich das Projekt um ein Jahr verschoben und wir fanden uns im März 2021 erneut vor der Entscheidung – kommen wir mit der geplanten Busstruktur und mit der sich stets ändernden Pandemie Lage voran?
Im Rahmen der Überlegungen, was wir tun wollen, kam der Kontakt zu der ebenfalls selbstorganisierten Gruppe Kesha Niya, die seid einigen Jahren in Italien aktiv ist, zustande.
Wir entschlossen uns, unseren Plan für das Frühjahr zu ändern.
Lange Rede und auch viele Gedankengänge später:
3,5 Wochen mit Directsupport in Ventimiglia.
Diese Zeit verbrachte ich überwiegend auf dem Parkplatz der Via Tenda im Medibus, mit der medizinischen und hygienischen Versorgung von People on the Move im Rahmen unserer Möglichkeiten.
Unsere Tage waren immer ziemlich lang, begonnen meist mit einer Besprechung des Tages und notwendigen Themen am Morgen, dann von Mittags bis Abends am Destributionplace, dann Essensausgabe am Squat oder am Beach und meistens noch Gruppentreffen am Abend.
So kam ich mit sehr vielen und sehr verschiedenen Menschen in Kontakt.
Bei der Versorgung vieler Personen im Medibus kamen unterschiedliche Situationen zu Stande:
Manche Anliegen gingen ganz schnell, manchmal waren Gespräche sehr zeitaufwändig, öfters war es auch lustig – da wir uns mit verschiedenen Sprachapps versuchten zu verständigen, mal mit und mal ohne Erfolg. Manche Besuche im Medibus wurden auch immer vertrauter, da einige Menschen häufiger oder sogar täglich vorbei kamen. Doch kam es auch zu unangenehmen oder nervigen Begegnungen.
Ich konnte mich in meiner Aufgabe im Medibus gut wieder finden, da ich vielen Menschen dadurch in einem kleineren und geschützteren Raum und Rahmen zuhören konnte, an ihrem Alltag teilhaben durfte und Beschwerden lindern konnte.
Da wir unseren Tag ja überwiegend am Parkplatz Via Tenda verbrachten, erlebte ich jedoch auch den Tag am Infobus in Ausschnitten mit und habe somit viele verschiedenen Stimmungen miterlebt, die von der Anzahl der Menschen, vom Frustrationsgrad und vom Wetter abhängig sein konnten.
An vielen Tagen bin ich gerne auf den Platz gekommen, an manchen Tagen war ich angespannt und von der Anzahl der Menschen und ihren Anliegen gefordert. Was ich das erste mal an mir beobachtet habe ist, dass es mich an manchen Stellen beengt hat, überwiegend unter männlich sozialisierten und/oder von mir gelesenen Personen zu sein.
Für mich war es eine intensive Zeit, ich habe erneut erlebt, was es bedeutet, wenn Menschen innerhalb von Europa nicht erwünscht sind und sie am Rande der Existenz leben und durchkommen müssen.
Für mich ist es eine sehr wichtige Erfahrung diese Lebensrealität – die zu meinem Alltag in Deutschland komplett gegensätzlich ist, kennen zu lernen und wahrzunehmen. Ich weiß natürlich, dass es sich um eine sehr kurze Zeit handelt, die ich nur in Ausschnitten mit erlebt habe und das diese Zeit physisch für mich ein Ende hat und für die People on the Move in Ventimiglia weiter geht.
In meinem Kopf und in meinen Gedanken und den daraus folgenden Handlungen bleibt diese Zeit jedoch bestehen und viele Szenen und Tatsachen werde ich nicht vergessen. Für mich ist es wichtig, dass ich diese Erfahrungen und die Einblicke die mir viele Menschen in ihre Leben für einen kurzen Moment gewährt haben zu nutzen. Die Menschen gaben mir somit die Möglichkeit diese Informationen in politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen einzuordnen. Ich möchte sie nutzen, um durch Erleben und Verstehen handlungsfähiger zu werden und nicht nur schockiert zu bleiben, über das was tatsächlich auf Europas Straßen passiert.