Erfahrungsbericht Ventigmilia

Einige sind müde. Schon so lange hier. Ich erst seit ein paar Tagen und dennoch merke ich, wie auch ich heute müde bin. Viele Geschichten, viele Menschen. Viel Lärm. Viel Müll. Mittendrin in einer Stadt, in der auch viel Tourismus geht. Manche Menschen, sind so unfreundlich. Mehrmehrmehr, mehr essen, mach mir mehr drauf. Please, antworte ich. Ich bin doch keine Maschine. Und dann, dann kommt ein Please. Aber ob es wirklich ernst gemeint ist, weiß ich auch nicht. Kein Wunder, so viel Scheiße, in so vielen Ländern. Der vielleicht 3. Versuch, über die Grenze nach Frankreich zu kommen. Und wieder hier. Wieder an diesem Ort, an diesem Platz. Wieder an diesem Squat, das geräumt wurde und dennoch, sind nicht alle Fenster mit Metallplatten vernagelt. Es gibt Wege da rein, da drin zu schlafen. Um das Squat herum, Müll. Take away Essensboxen, Kleidung, ein paar leere Bierdosen. Wir geben Essen aus. Hauptsächlich an männlich gelesene Personen.

Wenn weiblich gelesene Personen am Platz sind und mit einer bzw. mehreren männlich gelesenen Personen unterwegs sind ist es unklar, ob diese männlich gelesene Person nicht einer der Menschenhändler ist, die unterwegs sind hier. An einem Tag frage ich vier weiblich gelesene Personen auf dem Parkplatz, auf dem wir jeden Tag sind, wie ihr Weg war, wo sie gerne hin möchten und vor allem wie es für sie ist von so vielen Männern umgeben zu sein. Sie erzählen ihre Geschichten. Dafür winken sie eine männlich gelesene Person dazu, denn sie sprechen kein Englisch. Auf die Frage, wie das mit den Männern ist, zeigen sie mit ihren Fingern, das sie sehr nah wären. Wie Brüder wären sie, oder Cousins. Später erzählt mir eine Person aus der Supportstruktur, dass „Bruder“ und „Cousin“ auch oft benutzt wird für die Männer, die als Schlepper fungieren.

Andere Männer bzw. Menschen die ich männlich lese, begegnen mir mit Sexismus. Ich bekomme den starken Eindruck, dass sie mich auf mein Geschlecht reduzieren. Mir schwindet die Lust, mit ihnen zu reden. Ihre Geschichte zu hören. Ich frage mich, wem kann ich noch vertrauen? Wer kommt mir plötzlich zu nahe? Wann kommt der Zeitpunkt, an dem die Stimmung wieder kippt und ich nicht mehr ernst genommen werde? In einer anderen Sprache vor mir, vermutlich über mich gesprochen wird. Sich über mich lustig gemacht wird.

Aber vielleicht bin ich auch nicht ernst zu nehmen? Weiß, privilegiert, mal eben auf sozialer Mission Essen austeilen und Wifi anbieten und dann wieder zurück? Und mit meiner Erwartung, das Unabhängig von der jeweiligen Sozialisierung ein Umgang ohne Reduzierung auf Geschlecht in allen Kontexten statt finden soll?

Ich denke, ich bin ernst zu nehmen. Und das was hier passiert, ist genau das, ein Auswuchs der kapitalistischen Scheiße, die nun mal nicht von patriarchalen Strukturen zu trennen ist.

Ob ich das wohl lange kann? Die Widersprüche aushalten, die bis dahin gehen, dass ich mich frage inwiefern ich und wir auch negative Wirkungen hinterlassen? Symptome bekämpfen? Meine privilegierte Position nutzen um anderen das Leben in der großen Scheiße ein Stück weit besser zu machen?

Mir erscheint die Stimmung weitaus heftiger, trauriger, trostloser. Als an anderen Orten, an denen ich in ähnlichen Kontexten unterwegs war. Dort erschien es mir, als wären Witze, Scherze, Lachen trotz all der Scheiße ein Teil des Alltages auf der Straße, auf den Plätzen, in den Unterkünften. Vielleicht habe ich es hier noch nicht mitbekommen- aber so wie ich es bisher mitbekomme, erscheint mir die Lebensfreude weitaus weniger am Start zu sein. Vielleicht auch kein Wunder, nach den langen Wegen, nach den vielen (traumatischen?) Ereignissen. Nach so vielen Nächten unruhigen Schlafes. Immer wieder werden mir, werden uns Geschichten erzählt. Unterschiedlichste. Von Erlebnissen in dem Herkunftsland, auf dem Weg dahin, wo die Menschen sich ein besseres Leben erhoffen. Und dann noch Bitte und Danke sagen wenn eine Kartoffel vor dir steht und dir Pasta mit Tomatensoße in ein recycelbaren lapprigen Plastikteller kippt und dir eine Holzminigabel dazu legt?

Mir klebt die FFP2 Maske am Gesicht und ich schenke den nächsten Kaffee ein. Zum zwanzigsten Mal desinfiziere ich mir die Hände, vor mir ein paar Menschen mit Masken, unterschiedliche. Covid ist da, aber irgendwie auch weit weg. Einige der People on the move tragen sogar ihre Maske zum Schlafen. Unser Mediteam berichtet, das dennoch kaum ein Mensch nach einem Coronatest fragt. Die Menschen sind den ganzen Tag draußen, bleiben meist in ihrer Gruppe.

Einige aus der Supportcrew sagen, dass sie bei dem Gedanken, dass sie bald abreisen, denken, es wird hier aber noch lange nicht vorbei sein. Und ich frage mich, hört diese Scheiße jemals auf? Wie oft werde ich noch an Orten sein, an dem der Strand wunderschön ist, die Berge leuchten, der Wasserfall neben mir plätschert und eigentlich nur ein Haufen Scheiße am Start ist?

Wann werden wir damit aufhören können, die Scherbenhaufen dieses Systems zu minimieren? Um dann nach ein paar Wochen „nach Hause“ zurück zu kehren und nach dem Kämpfen mit dem Alltag dort- wieder dort anzukommen und dann, dann irgendwann wieder los zu ziehen?

Dazu die Gefühle untereinander, die Nähe, die Sympathie, das Gefühl am Rande der Nerven zu kratzen und jede Stimmung auf zusaugen und in eine individuelle Ablehnung oder Verunsicherung zu beziehen? Um dann sich selbst wieder hoch zu ziehen, sich wieder zu erholen. Wie viele Gefühle haben hier Platz? Und wie viele Selbstzweifel? Wie viele Auseinandersetzungen untereinander?

Und dabei doch, den ein oder anderen schönen Moment zu haben. Wenn morgens die Sonne auf den Kaffee scheint, wenn wir Menschen nicht wiedersehen und hoffen, das sie es nun geschafft haben- einen Schritt weiter zukommen in ein für sie hoffentlich besseres Leben. Wenigstens eine Grenze überwunden zu haben, die sie dahin hoffentlich näher bringt. Bis dahin die Wut und die Suche nach den Antworten.

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